SSRQ ZH NF I/1/3 149-1
Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, I. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Erster Teil: Die
Stadtrechte von Zürich und Winterthur. Erste Reihe: Stadt und Territorialstaat Zürich.
Band 3: Stadt und Territorialstaat Zürich II (1460 bis Reformation), von Michael Schaffner
Zitation: SSRQ ZH NF I/1/3 149-1
Lizenz: CC BY-NC-SA
Ordnung für die Lateinschule am Grossmünster der Stadt Zürich
1532.
Stückbeschreibung
- Signatur: StAZH G I 1, Nr. 156
- Originaldatierung: 1532 Überlieferung: Aufzeichnung (2 Doppelblätter)
- Beschreibstoff: Papier
- Format B × H (cm): 22.0 × 32.0
- Sprache: Deutsch
-
Edition
- Egli, Actensammlung, Nr. 1896
Kommentar
Die vorliegende Schulordnung stammt von der Hand Heinrich UtingersPerson: , der seit 1507 Chorherr am GrossmünsterOrganisation: war und nach der Reformation als verwaltungstechnischer Experte unter anderem als Kustos des ChorherrenstiftsOrganisation: , Schreiber des EhegerichtsOrganisation: und Almosenpfleger fungierte (HLS, Utinger, Heinrich). Der Erlass der Ordnung fällt in das erste Jahr der Tätigkeit der Amtszeit Heinrich BullingersPerson: , der bis 1537 als Schulherr das Rektorat der Hohen SchuleOrganisation: und damit auch eine Aufsichtsfunktion über die Lateinschulen ausübte. Die Marginalien in der vorliegenden Aufzeichnung stammen von seiner Hand. Eine Zusammenfassung des Inhalts der Ordnung inklusive Auflistung des Unterrichtsstoffs in Form eines Stundenplans findet sich bei Ernst 1879, S. 89-91.
ZürichOrt: verfügte seit dem Mittelalter über zwei Lateinschulen, die an GrossmünsterOrganisation: und FraumünsterOrganisation: angesiedelt waren. Sie führten in die klassischen Sprachen ein und bauten ihrerseits auf dem Elementarunterricht der Deutschen Schulen auf, wo gegen Entrichtung einer Schulgebühr Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt sowie Chorgesang und Gebete eingeübt wurden. Für die Mitte des 16. Jahrhunderts sind in ZürichOrt: drei solcher Elementarschulen belegt. Schülerinnen waren lediglich in den Deutschen Schulen zugelassen. Wollten Frauen eine weitere schulische Ausbildung absolvieren, waren sie auf Privatunterricht angewiesen (Stucki 1996, S. 247).
Huldrych ZwingliPerson: wirkte im Zug der Reformation darauf hin, am GrossmünsterOrt: eine Hohe SchuleOrganisation: für die Ausbildung der Pfarrerschaft im Sinn der neuen Lehre einzurichten (vgl. dazu die Ordnung des GrossmünsterstiftsOrganisation: , SSRQ ZH NF I/1/3 117-1). Zu diesem Zweck wurden renommierte Gelehrte in die Stadt berufen, wie beispielsweise der zuvor in BaselOrt: tätige Konrad PellikanPerson: , der 1526 eine Stelle als Lektor für Hebräisch, Griechisch und Altes Testament annahm (Stucki 1996, S. 251). Auch die lateinischen Schulen fanden als vorbereitende Institutionen für die Hohe SchuleOrganisation: ein vermehrtes Interesse der Obrigkeit. Der dortige Unterricht war unentgeltlich, was massgeblich aus freigewordenen Pfründen des GrossmünsterstiftsOrganisation: finanziert wurde. Zudem erhielt ein Teil der Schüler Unterstützung aus dem AlmosenamtOrganisation: (Stucki 1996, S. 249).
Zum ZürcherOrt: Schulwesen vgl. Brändli 2019; Maissen 2004; Stucki 1996, S. 246-253; Spillmann 1962; Ernst 1879; zur ZürcherOrt: Buch- und Lesekultur des 16. Jahrhunderts vgl. Leu 2004.
Editionstext
Ordination und ansëhen, wie man sich fu̍rohin mit den schuͦleren, letzgen und anderen dingen halten sol, in der schuͦl zuͦm Mu̍nsterOrt: Organisation: , Zu̍richOrt: , 1532Originaldatierung: 1.1.1532 – 31.12.1532
Fu̍rnemlich sol mitt allem flyß, tru̍w und ernst von den schuͦlmeisteren angehalten werden, das die knaben gmeinlich in gotsforcht, zucht und frommkeit wol ufzogen werdind, das man in iren worten, wysen und gberden ein zucht spu̍re, insunders soͤllend die, so von dem gstifftOrganisation: erhalten, ein flyssig ufsaͤhen haben.
Die stunden soͤllend flyssig gehalten werden von den schuͦlmeisteren und iren zuͦ ggaͤbnen, also das, wenn die glogg schlach, sy zuͦ gegen syend und da lësind und bhoͤrind, bis die glogg widerumb schlecht.
Wo dann verkerte, boͤse buͦben und ergerlich knaben erfunden werdend, als die mitt schalkeit, boͤsen tu̍ken und anders, dann soͤmlichen kinden und knaben gezimpt, umb gand, durch die dann frommer, biderber lu̍ten kind moͤchtind verboͤsert werden, sollend fu̍rderlich uß der schuͦl verschikt werden, damitt sy nieman nachteilig syend. Desglich ouch, die ungehorsam wërind, widerbaͤfftzinnd oder deren elteren nit lyden weltind, das man sy umb ir unzucht, boßheit, unflyß, lu̍gen und was dann unrecht were, sträffen soͤlte, ouch die, so gar nit studieren wellend und alle bitt, sträff, manung und lër verloren ist.
Wo dann soͤmlich vorhanden, sol ein schuͦlmeister die selben dem schuͦlherren1 anzeigen, der sol es mitsampt dem schuͦlmeister, pflëgeren vom gstifftOrganisation: und verordneten zuͦ der schuͦl fu̍r tragen, das der knab bald abgefertiget und der schuͦlmeister nit verdächt werde.
Welche aber also sind, das ettwas guͦts von inen ze hoffen ist, soͤllend jetlicher nach sinem koͤnnen und verstand under sinem lëser und in siner ordnung bliben und in die anderen nit gesetzt werden, er koͤnne und verstande dann das eigentlich und wol, das man in siner classe lërt. Der ordnungen soͤllend iiijMenge: 4 sin.
Die erstMenge: 1 ordnung
Die anderMenge: 2 ordnung
Die drittMenge: 3 ordnung
In die ghoͤrend, die nun die anfeng der grammatik habend und die rudimenta wol koͤnnend, denen sol man lesen zuͦ volgenden stunden: Umb die 6Zeit: 6:00 bis zuͦ den 7Zeit: 7:00 das latinisch testament, wie obgemeldet in 2Menge: 2 ordine, also umb die 8Zeit: 8:00 VirgiliumPerson: , wie ouch vor bestimpt ist. Umb die 12Zeit: 12:00 sol inen TerentiusPerson: gelaͤsen und des anderen tags gerepetiert werden und das ist ouch dero eins, die allweg soͤllend in der schuͦl gehalten werden. Und umb das einZeit: 13:00 soͤllend sy sitzen zuͦ der 4.Menge: 4 ordine und [S. 6]Seitenumbruch zuͦsaͤhen, wie man inen grece lëse. Sie aber sollend es nun jetz zuͦmal lëren laͤsen und zweyMenge: 2 vocabula greca, wie vor von dem latin gemeldet, zeichnen und lëren. Umb die iijZeit: 15:00 syntaxim ErasimiPerson: , och heteroclita, genera und preterita GlareaniPerson: und ein tag umb den anderen repetieren, ouch flyssig forderen in repetendo VirgilioPerson: und TerentioPerson: .
Denen sol man am zinstagZeitspanne: Dienstag und donstagZeitspanne: Donnerstag ze mittemtagZeit: 12:00, als man urlob hat, Copia4 ErasmiPerson: lësen und am samßstagZeitspanne: Samstag epistulas CiceronisPerson: und die ijMenge: 2 buͤcher soͤllend ouch von einet in der schuͦl belyben. Deßglych soͤllend dis all samstagZeitspanne: Samstag epistlen oder experimenta geben.
Die fierdMenge: 4 ordnung
Hieryn ghoͤrend, die guͦter mas des latins bericht sind, die soͤllend sich fu̍r ander zuͦ den prediginen schiken, insunders die vom stifftOrganisation: erhalten werdend. Denen sol der schuͦlmeister umb die 6Zeit: 6:00 fu̍rlaͤsen dialecticam MelanchtonisPerson: und die von einet in der schuͦl behalten. Und wenn er ettwo wyt in preceptis kommen ist, sol er allweg des andren tags ein authoren lësen und in dem zeigen das artificium dialecticum und imitationem. Da mag er nemmen SalustiumPerson: , damitt er ouch ein historiam in der schuͦl habe oder ußerlëßne orationes CiceronisPerson: etc. Umb die 8Zeit: 8:00 soͤllend sy gan in die ordinariam propheticam lectionem und die nit versumen, da lisdt man das alt testament.5 Umb die 12Zeit: 12:00 soͤllend sy aber gan in die ordinariam lectionem QuintilianiPerson: , oder was man denn lißdt. Umb das einZeit: 13:00 sol der schuͦlmeister in der schuͦl lësen grammaticam CeporiniPerson: 6 oder MelanchtonisPerson: und allweg dess anderen tags daruff HomerumPerson: und in dem zeigen rationem grammaticam, also ein tag umb den anderen wëchslen und doch allwegen imm vorlaͤsen HomerumPerson: ettwas der vorigen letzgen repetieren und losen, [S. 7]Seitenumbruch wie die knaben zuͦnëmmind. Umb die iijZeit: 15:00 lëse man denen rationem carminum, schemata und tropos und allweg des anderen tags OvidiiPerson: metamorphosim, in dem man die precepta zeige und repetiere und die fierMenge: 4 stuk grammatica greca. HomerusPerson: , ratio carminum und OvidiusPerson: soͤllend von einet in der schuͦl blyben. Am samstagZeitspanne: Samstag mag der schuͦlmeister ettwas introduction lësen in mathesim und Pomponium MelamPerson: . Es soͤllend aber ouch von diser 4.Menge: 4 ordnung carmina und epistel ggaͤben werden.
Der schuͦlmeister sol insunders die letzgen der 4.Menge: 4 ordnung ferggen und ein flyssig ufsëhen haben, wie die ubrigen versorgt werdind, das alle mëngel und prësten allweg gebesseret werdind.
Und dise ordinantz soll unverzogenlich nach dem herbstZeitspanne: Herbst angehept werden. 1532Originaldatierung: 1.1.1532 – 31.12.1532.
Anmerkungen
- Korrektur auf Zeilenhöhe, ersetzt: ufzeichnen.↩
- Streichung: lich.↩
- Hinzufügung am rechten Rand.↩
- Hinzufügung am linken Rand.↩
- Der Schulherr war Rektor der Hohen SchuleOrganisation: und übte hinsichtlich der Lateinschulen eine Aufsichtsfunktion aus (Stucki 1996, S. 247).↩
- Die «Christianae Juventutis Crepundia» war ein verbreitetes lateinisches Lehrbuch für den Schulgebrauch, das in ZürichOrt: erstmals im Jahr 1527 duch Christoph FroschauerPerson: gedruckt wurde und zahlreiche Neuauflagen erlebte (zur Erstauflage: Vischer, Druckschriften, C 123). ↩
- Der niederländische Humanist Johann MurmelliusPerson: gilt als ein Vorreiter des humanistisch geprägten Schulunterrichts. Sein Werk «Pappa Puerorum» erschien erstmals 1513 in KölnOrt: (VD16, M 6952).↩
- Dies bezieht sich auf «De duplici copia rerum ac verborum commentarii duo», eine Sammlung rhetorischer Stilmittel des Erasmus von RotterdamPerson: , die erstmals 1512 in ParisOrt: erschien und in zahlreichen Neuauflagen weite Verbreitung erlangte (für die 1519 in StrassburgOrt: erschienene Ausgabe vgl. ZBZ Rrc 72).↩
- Die Hohe SchuleOrganisation: , in der die Schüler der obersten Klasse der LateinschuleOrganisation: einige Vorlesungen hören durften, wurde auch als Prophezei bezeichnet (Stucki 1996, S. 250).↩
- Jakob CeporinPerson: war ein enger Mitarbeiter Huldrych ZwinglisPerson: und wirkte in der ersten Hälfte der 1520er Jahre als Lehrer für Griechisch und Hebräisch in ZürichOrt: . Sein Lehrbuch «Compendium Grammaticae Graecae» wurde 1526 erstmals bei FroschauerPerson: gedruckt und bis 1575 nicht weniger als acht Mal neu aufgelegt (zur Erstauflage: Vischer, Druckschriften, C 93).↩
Regest